2-9-2005

 

Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee, von Sandra Kalniete

(b. 1952)

Sites:

Sandra Kalniete's Homepage

Sandra Kalniete's old page in the European Commission

Wikipedia

Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am 24. März 2004

 

 

16. April 2005

Keine Gesellen, nirgends

Sandra Kalniete schreibt über das düstere Schicksal ihrer Familie und wäscht Lettland rein

von Michael Wolffsohn

Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Herbig, München. 352 S., 22,90 EUR

Sandra Kalniete ist eine interessante, vielseitige, kluge, leidgeprüfte Frau aus leidgeprüfter Familie und leidgeprüftem Volk. In einem stalinistischen Gulag Sibiriens wurde sie 1952 geboren. 1941 waren ihre Eltern aus Lettland dorthin deportiert worden, weil sie, wie unzählige Letten, Litauer und Esten, eher Balten als Sowjetbürger sein wollten. Als Folge des Hitler-Stalin-Paktes (1939) wurden die baltischen Staaten von der Sowjetunion ihrer Unabhängigkeit beraubt. 1941 vertrieb der nationalsozialistisch-deutsche Beelzebub den kommunistisch-sowjetischen Teufel, der 1944 wiederkehrte, wieder verfolgte und wieder mordete. Aus Sowjetsicht waren Balten, sofern sie nach nationaler Selbstbestimmung strebten, Konterrevolutionäre", "bürgerliche Reaktionäre", "Verräter" und "Faschisten".

 
Sandra Kalniete
 

Wie zehntausende anderer Letten überlebten Kalnietes Großväter den Gulag nicht, eine Großmutter starb an den Folgen der Zwangsarbeit, auch den übrigen Familienmitgliedern erging es so übel wie den meisten ihrer Landsleute. Als Hitlers Wehrmacht 1941 kam, keimte Hoffnung auf, nach dem Motto: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund." Von deutscher "Befreiung" konnte keine Rede sein, denn bestenfalls galten Letten und Esten den Nazi-Ideologen als "dumme Bauern", die man als kollaborierendes Instrument gegen Sowjets und Juden benutzen könne.

Als Sandra sieben Jahre alt war, durften ihre Eltern mit ihr nach Lettland zurückkehren. Sie studierte 1977 bis 1981 an der Lettischen Kunstakademie, arbeitete als Kunsthistorikerin. 1988 schloß sie sich der lettischen Unabhängigkeitsbewegung an und wurde stellvertretende Vorsitzende der lettischen Volksfront, der größten nach Unabhängigkeit strebenden politischen Organisation. Nach der lettischen Unabhängigkeitserklärung arbeitete sie im lettischen Außenministerium danach als Botschafterin in mehreren Staaten. Im November 2002 wurde sie lettische Außenministerin, 2004 Kommissarin der Europäischen Union.

Die nun auf Deutsch erschienene Geschichte ihrer Familie - basierend auf Erzählungen und Archivstudien, stilistisch und kompositorisch eher unbeholfen, schwülstig, gefühlsüberfrachtet, selten analytisch - wurde in ihrer Heimat ein Jahr vor ihrer Ernennung zur Außenministerin vorgelegt. Sie war gewissermaßen eine innenpolitische Visitenkarte. Jetzt ist das Buch eine außen- und europapolitische Einführung der Autorin, der Politikerin, ihres Landes. Hier beginnt das Problem, zumindest mein Problem.

Die Leidensgeschichte der Familie Kalniete ist Mikrokosmos des lettischen Makrokosmos. Jeder halbwegs einfühlsame Mensch leidet mit dieser Familie und diesem Volk. Das ist die eine Seite.

Die andere: die geradezu unerträgliche, beinahe provokative oder unbelehrbare Schönfärberei lettischer Kollaboration mit der deutschen Besatzung beim Holocaust. Gewiß, Kalniete erwähnt, daß die Deutschen 1941 in Lettland als "Befreier" bejubelt wurden. Doch dann dies: "Nach dem Krieg machte sich die sowjetische Propaganda diesen Umstand ausgiebig zunutze, um ihre westlichen Verbündeten von der ,faschistischen und antisemitischen Einstellung des lettischen Volkes' zu überzeugen. Die Bilder vom Einmarsch der Deutschen in Riga sind bis heute immer wieder in westeuropäischen Fernsehsendungen zu sehen, aber die Kommentatoren pflegen den Grund für die damalige Haltung der Letten zu vergessen - oder sie kennen ihn einfach nicht. Sie erklären den Zuschauern und Zuhörern nicht, was während des ersten Jahres der sowjetischen Okkupation in Lettland geschehen war."

Bis wann "nach dem Krieg" war der Westen noch mit der Sowjetunion verbündet? Und wer sind "die" Kommentatoren? Und existiert als Quelle historischer Informationen nur das Fernsehen? Gibt es "das" Fernsehen? Kommt Kalniete nicht auf den Gedanken, daß jene Kommentare und Bilder vielleicht doch die ihr nicht genehmen historischen Fakten wiedergeben? Ich zitiere "den" Holocaust-Forscher Raoul Hilberg: "In den ersten Wochen deutscher Besatzung ergriffen baltische Freiwillige die Initiative und gingen so brutal gegen Juden und mutmaßliche Kommunisten vor, daß der Befehlshaber für das rückwärtige Heeresgebiet der Heeresgruppe Nord sie anwies, ihre ausufernden, eigenmächtigen Verhaftungen und Erschießungen sofort einzustellen. Von nun an, befahl er, mußten sie sich auf Einsätze beschränken, die deutsche Offiziere genehmigt hatten, oder brauchten Haftbefehle der einheimischen Justiz." Kalniete sieht das anders. Bei ihr führt die Spur zu den Sowjets: "Das KGB produzierte eine Reihe von Veröffentlichungen, die erstaunlicherweise zu ,Quellen' zahlreicher Holocaust-Forscher avancierten." Keine Rede, davon, daß Antisemitismus lange vor der deutschen Besatzung in Lettland, wie in den beiden anderen baltischen Staaten, breit und tief in der Gesellschaft verwurzelt war.

Angriff ist auch für Kalniete die beste Verteidigung: "Ich weise das Bestreben zurück, mir und anderen anständigen Einwohnern Lettlands die ,angeborene Schuld' aufzubürden, weil nach dem Einmarsch der Deutschen in Riga eine Gruppe willfähriger Abenteurer unter der Führung Viktor Arajs eine Brigade bildete, zu deren Hauptaufgabe die Erschießung von Juden, Kommunisten und Zigeunern wurde." Wer bürdet Kalniete Schuld auf?

Viel überzeugender mindert Raoul Hilberg die kollektive Verantwortung (nicht Schuld, denn Schuld ist immer nur individuell) "der" Letten für jene ihrer Landsleute, die kollaborierten: "Aus den baltischen Freiwilligen waren Instrumente geworden... Auch in Lettland machte sich Unbehagen breit", denn man ahnte: "nach der ,Hinrichtung' der Juden drohe vielen Letten der ,gleiche Weg', speziell wenn sie für deutsche Behörden gearbeitet hätten."

"Voll und ganz auf den Staatsmännern des Dritten Reiches" laste die Verantwortung auch für das Judenmorden in Lettland, schreibt Kalniete. Richtig. Doch unvergessen Paul Celan über den Holocaust: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland." Der Meister hatte viele Gesellen. Kalniete kennt und nennt nur den "Meister". Selbstkritik der Gesellen? Fehlanzeige. Europareif trotz EU-Mitgliedschaft?

Anmerkungen zu dieser Rezension, hier und hier

21.5.2005 taz Magazin Politisches Buch 202 Zeilen

Rezension

Ratten im Brennnesselsud

Die frühere lettische Außenministerin Sandra Kalniete erzählt die Geschichte ihrer Familie, die von den Russen nach Sibirien deportiert wurde. Ihr Schicksal ist exemplarisch für die Tragödie Lettlands während der Sowjetzeit

VON ANITA KUGLER

Sandra Kalniete: "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee". Aus dem Lettischen von Matthias Knoll. Herbig Verlag, München 2005, 352 Seiten, 22,90 Euro

Die Erinnerungen an fünfzig Jahre getrenntes Europa könnten unterschiedlicher nicht sein. Im Westen wird das totalitäre Unrecht der Stalinzeit mit dem Hinweis auf die Einzigartigkeit der Judenvernichtung banalisiert, im Osten der Schuldanteil der Balten verharmlost, weil die sowjetischen Repressionen in den Mittelpunkt gestellt werden.

Für diese verschiedenen Wahrnehmungen der jüngsten Vergangenheit typisch war der Eklat im letzten Jahr auf der Leipziger Buchmesse. Salomon Korn vom Zentralrat der Juden verließ damals unter Protest den Festakt, als die lettische Außenministerin Sandra Kalniete in ihrer Ansprache ohne Hinweis auf den lettischen Anteil am Judenmord nur die eigene Nation als Opfer "völkermörderischer" Willkürherrschaft darstellte sowie den "Nazismus und Kommunismus gleichermaßen kriminell" nannte. Noch weit und steinig ist der Weg zu einer gemeinsamen Gedenkkultur, in der sowohl die Erfahrung des Gulags als auch die Erinnerung an den Holocaust in das kollektive europäische Gedächtnis eingegliedert sind.

Ein Beitrag auf diesem Weg ist Sandra Kalnietes Buch "Mit Ballschuhen in den sibirischen Schnee". Es ist kein literarisches Meisterwerk, aber sehr gut geeignet, unsere große Unwissenheit über das Schicksal der Balten, hier der Letten, während der Sowjetzeit zu mindern. Kalniete hat auf der Grundlage von persönlichen Erinnerungen und sorgfältigen Archivstudien die Geschichte ihrer Großeltern, ihrer Eltern, aber auch ihre eigene aufgeschrieben, denn sie wurde 1952 als "Verbannte" im Gebiet Tomsk geboren.

Die Geschichte ihrer Familie ist außergewöhnlich tragisch, kein Unglück scheint ausgelassen zu sein. Sie ist aber auch exemplarisch, weil es in Lettland genau wie in Litauen und Estland wohl kaum eine Familie gibt, die nicht in irgendeiner Weise von den stalinistischen Repressionen betroffen war. Wer Sandra Kalnietes Buch gelesen und auch die Anmerkungen nicht überschlagen hat, versteht, warum das Kriegsende am 8. Mai 1945 für die Mehrheit des lettischen Volkes keine Befreiung bedeutet, sondern die Ablösung einer mörderischen Zwangsherrschaft durch eine andere.

Die tragische, aber grausam normale Geschichte der Familien Kalniete väterlicherseits und Dreifelde mütterlicherseits lässt die Autorin im August 1939 beginnen. Seinerzeit wurden in dem Geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt die baltischen Staaten der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen. Schon zwei Monate danach unterzeichnete der stellvertretende Volkskommissar für Staatssicherheit der UdSSR, Iwan Serow, den Befehl des russischen Geheimdienstes NKWD "Über die Prozedur der Deportation antisowjetischer Elemente in Litauen, Lettland und Estland". Anderthalb Jahre bevor die Güterzüge dann wirklich nach Sibirien rollten, war in diesem Befehl Nr. 00123 alles genau festgelegt: die Trennung der Männer von ihren Familien, Sammelpunkte, Deportationsziele. Ausprobiert hatte der NKWD den technischen Ablauf gerade in Ostpolen.

Bei den Dreifeldes klopfte der Geheimdienst am 14. Juni 1941 an die Tür. Ligita, später Sandra Kalnietes Mutter, damals knapp 15 Jahre alt, hatte nur Zeit, ihre Schuhe in die Hand zu nehmen. Es waren jene Ballschuhe, die dem Buch den Titel gaben. 34.250 angeblich "antisowjetische Elemente" darunter etwa 5.000 Juden, wurden, Tage bevor die Wehrmacht einmarschierte, in die Güterzüge gen Osten gepresst. Die Männer kamen zumeist in die Zwangsarbeitslager des Gulag. Sandra Kalnietes Großvater Janis starb dort schon nach einigen Monaten an Entkräftung.

Erst 50 Jahre später, nach der Öffnung der KGB-Archive, erfuhr die Restfamilie Todesdatum und Todesort. Die Großmutter Emilija und ihre Tochter Ligita wurden nach Zwischenaufenthalten in Lagern, die als Todeslager berühmt geworden sind, nach Petropawlowka im Gebiet Tomsk geschickt. Dort wurden sie als so genannte Sondersiedler ihrem Schicksal überlassen, ohne Winterkleidung, ohne ein Dach über dem Kopf; sie lernten, Ratten in Brennnesselsud zu kochen. Glücklich dran waren die, die in einer Kolchose Arbeit fanden. Die Großmutter Emilija wollte bald niemand mehr haben, sie wurde zu schwach. Sie starb im Juni 1950. Zu diesem Zeitpunkt befand sich ihre Tochter Ligita bereits zum zweiten Mal auf dem Weg in die Verbannung. Im April 1948 hatte die sowjetische Administration erlaubt, dass die 1941 als Kinder und Jugendliche Deportierten in die Heimat zurückkehren durften.

Für die meisten dieser Rückkehrer dauerte die Freiheit nur 16 Monate. Denn in allen baltischen Staaten liefen schon die geheimen Vorbereitungen des KGB für die zweite große Deportation, viel größer noch als die vorangegangene. Deren Tarnname lautete "Operation Brandungswelle". Laut Ministerratsbeschluss der UdSSR sollten alle "Kulaken […], Banditen […], Nationalisten […], früheren Banditen […]" ihre Familien sowie alle "Familienangehörigen von Personen, die Banditen unterstützen", verbannt werden, und zwar "auf ewige Zeit".

Zwischen dem 25. und 29. März 1949 wurden in 33 Zügen rund 43.000 Menschen aus Lettland in den Gulag oder in die unwirklichen Sonderansiedlungszonen Sibiriens deportiert; aus dem gesamten Baltikum waren es rund 95.000 Menschen. Genau 69.071 von ihnen, das sind 72,9 Prozent, waren Frauen und Kinder. Mehr als 15.000 der Deportierten überlebten die Verschickung nicht.

In einem der Züge befanden sich auch Sandra Kalnietes späterer Vater, Aivars Kalniete, damals 17 Jahre alt, und seine Mutter Milda. Sie galt als Angehörige eines "Banditen", weil ihr geschiedener Mann im März 1944 in die "Lettischen Freiwilligen-Legion" einberufen worden war, eine der Waffen-SS unterstellte Organisation. Als noch schwerwiegender galt, dass er nach der Eroberung Rigas durch die Rote Armee für ein paar Wochen als antisowjetischer Partisan flüchtete. Damit war das Schicksal seiner Familie besiegelt.

Sandra Kalnietes Großvater wurde nach einem Schauprozess in ein Zwangsarbeitslager in Komi geschickt und starb dort 1953. Seine "Banditenfamilie" landete nach einer Odyssee in der Sondersiedlung Togur, Gebiet Tomsk. Dort lernten sich die Eltern der Autorin kennen. Erst im Mai 1957 kehrten sie nach Lettland zurück. Ihre Mutter nach 16 Jahren Verbannung, psychisch gezeichnet für ihr Leben, und immer hungrig.

Noch weiß niemand, welche psychischen Folgen 50 Jahre Annektion, Okkupation, Deportation, Repression für die Kinder der Deportierten und die politische Kultur des Landes haben; ganz zu schweigen von der sowjetischen Strategie, die Letten in ihrem eigenen Land zur Minderheit zu machen. Eine Debatte, vergleichbar der deutschen über die Kriegskinder, scheint bislang nicht möglich. Die Letten sind noch viel zu sehr mit dem Überleben beschäftigt.

Die Zwangsverschickungen aus Lettland sind im Megasystem Gulag nur eine Tragödie unter vielen. Doch es ist das unbestreitbare Verdienst Kalnietes, am Beispiel des Kleinen das Große so anschaulich zu beschreiben, dass es im Gedächtnis bleibt.

 

 

Artikel erschienen am 28. April 2004

Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee

Nazis und Kommunisten: "Gleichermaßen verbrecherisch"? Lettlands EU-Kommissarin Sandra Kalniete erklärt ihre Buchmessen-Rede

Sandra Kalniete, die am 1. Mai als Vertreterin Lettlands in die Europäische Kommission einziehen wird, sorgte in Deutschland für Aufsehen, als sie auf der Leipziger Buchmesse Nationalsozialismus und Kommunismus als "gleichermaßen verbrecherisch" bezeichnete. Über die historische Opfer- und Täterrolle der Völker Osteuropas sprach Gerhard Gnauck mit der Politikerin.

DIE WELT: Sie haben Ihrem Erinnerungs-Buch den Titel "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee" gegeben. Warum?

Sandra Kalniete: Dieses Paar Schuhe ist ein Symbol: Es steht für ein Stück Zivilisation, aber es bezieht sich auch auf eine wahre Begebenheit. Am Vorabend der Deportation bekam meine Mutter von ihrem Bruder ihre ersten Ballschuhe geschenkt. Sie wollte am Samstag, dem 14. Juni 1941, auf ihren ersten "erwachsenen" Ball gehen. In der Nacht wurde die Familie verhaftet, und diese Schuhe waren die einzigen, die sie während des ersten Jahres in Sibirien hatte.

DIE WELT: Sie waren vier Jahre alt, als Ihre Familie aus Sibirien in das sowjetische Lettland zurückkam.

Kalniete: Als ich geboren wurde, war die schlimmste Zeit vorbei. Drei Monate nach meiner Geburt starb Stalin. Meine Eltern schützten mich lange vor ihren eigenen Erinnerungen. Erst als Erwachsene habe ich erfahren, was sie damals gefühlt haben.

DIE WELT: Was sollte der Leser im "alten" Europa von der Geschichte des "neuen" Europa wissen?

Kalniete: Ich will deutlich machen, wie die Entscheidungen zweier damaliger totalitärer Supermächte, Deutschlands und der Sowjetunion, von 1939 an die Geschichte Europas und das Leben von Millionen Menschen verändert haben. Meine späteren Eltern wurden, beide noch minderjährig, 1941 beziehungsweise 1949 mit ihren Eltern nach Sibirien deportiert. Von sechs Deportierten in meiner Familie sind drei in der Verbannung oder im Lager gestorben. Die erste Deportationswelle betraf etwa 15 000 Menschen, die zweite 40 000 Menschen. Und die ganze Zeit über waren 500 000 Bürger in Lettland Opfer von Repressalien. Während der Nazi-Okkupation wurden 90 000 lettische Juden ermordet und weitere zur Vernichtung in den so genannten Generalbezirk Lettland gebracht. Von einer Verantwortung des lettischen Staates dafür zu sprechen, ist ein Ergebnis späterer Mythenbildung. Wir hatten tapfere Menschen, die Juden gerettet haben, aber wir hatten auch Antisemiten. Die Entscheidung zur Vernichtung kam von der Besatzungsmacht.

DIE WELT: Aber lettische Einheiten waren daran beteiligt. Die Angehörigen der "Lettischen Legion" in der Waffen-SS gedenken bis heute öffentlich ihrer Traditionen.

Kalniete: Die so genannte Lettische Legion läuft unglücklicherweise unter dem Titel "Waffen-SS". Die lettischen Legionäre wurden zwangsmobilisiert. Man kann in keiner Hinsicht von der "Freiwilligkeit" des Beitritts zu dieser Einheit reden. Die Bezeichnung "die Freiwilligen" wurde von der Besatzungsmacht benutzt, um zu vertuschen, dass bei der Formierung der Einheit gegen das damals geltende Völkerrecht verstoßen wurde. Und man muss ganz klar sehen: Diese Einheit hat nie an Vernichtungsaktionen teilgenommen. Die Verwaltungskommission für übergesiedelte Personen der UNO hat sie nach dem Krieg als Kampfeinheit klassifiziert. Gerade deshalb durften diese Männer später ja auch nach Großbritannien und Amerika emigrieren.

DIE WELT: Wer im Generalbezirk Lettland war in den Holocaust verstrickt?

Kalniete: Nach der Forschungsarbeit der letzten Jahre wissen wir, dass etwa 1700 Personen an der Vernichtung beteiligt waren, der Vernichtung zumeist von Juden, auch von Geisteskranken und Kommunisten. Das war die Heimwehr, die örtliche Polizei. Sie hat die Vernichtung abgesichert. Die direkt Beteiligten, das nach seinem Chef benannte Arajs-Kommando, waren hundert bis dreihundert Personen. Nach 1991 haben wir viel Holocaustforschung betrieben. Heute ist Lettland vermutlich eines der Länder mit dem klarsten Bild darüber, was genau damals geschah und wer persönlich verantwortlich war. Die Geschichte des Holocaust wird an unseren Schulen gelernt, und unser früherer Staatspräsident hat eine internationale Historikerkommission gegründet, die regelmäßig neuste Erkenntnisse zum Holocaust und zur sowjetischen Repression veröffentlicht. Bis zum heutigen Tag sind schon mehr als zehn Bücher erschienen.

DIE WELT: Dass beide totalitären Regime gleichermaßen verbrecherisch waren - ist das in Lettland vorherrschende Meinung?

Kalniete: Was die Opferzahl betrifft, ist es in der Tat das allgemeine Gefühl. Ich habe gerade noch einmal das "Schwarzbuch des Kommunismus" gelesen: Zwanzig Millionen Opfer in der Sowjetunion. Ich erinnere mich auch noch an ein Interview des letzten KGB-Chefs Krjutschkow, der davon sprach, 68 Millionen Menschen seien Repressalien ausgesetzt gewesen. Wie viele davon ums Leben kamen, vermag niemand zu zählen. Daher ist die Meinung im Baltikum - aber auch in Polen - sehr verbreitet, dieser wenig bekannte Teil der europäischen Geschichte müsse stärker aufgearbeitet werden.

DIE WELT: Was bringen die Beitrittsländer in die EU ein? Ein neues Geschichtsbewusstsein? Oder auch einen alten Antisemitismus?

Kalniete: Nach unserer Auffassung kehren wir zurück als die, die wir waren und die wir sind. Wir kommen als boomende Volkswirtschaften, dynamische Gesellschaften. Ich glaube nicht, dass jetzt eine Zunahme des Antisemitismus droht. Wir tun viel, um das historische Bewusstsein und die Wachsamkeit zu fördern. Gefahrenzeichen gibt es in vielen Ländern. Entscheidend ist, dass die Behörden, unsere Präsidentin, die Regierung darauf reagieren und das verurteilen. Es ist überhaupt nicht meine Absicht, einen Teil der im 20. Jahrhundert begangenen Verbrechen herunterzuspielen. Hier liegen Missverständnisse vor. In diesem Sinne habe ich den führenden Vertretern der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland einen Brief geschrieben.

DIE WELT: Sind nicht gerade die kleinen Nationen in der Versuchung, sich selbst als Opfer zu sehen?

Kalniete: Offen gesagt, ich finde Ihre Frage merkwürdig. Ich verstehe auch nicht, aus welcher Ecke sie kommt. Dass wir versuchen, unsere wahre Geschichte kennen zu lernen, bedeutet doch nicht, dass wir uns selbst als Opfer darstellen und uns selbst beweinen. Wir spüren eine Verpflichtung zur Wahrheit.

 

N Z Z  Online

 

Neue Zürcher Zeitung, 20. Juni 2005, Ressort Politische Literatur

Doppelte Erfahrungen mit dem Totalitarismus

Familiengeschichte der lettischen Politikerin Sandra Kalniete

Ralf Altenhof

Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Herbig-Verlag, München 2005. 352 S., Fr. 39.90, € 23.–.

Ligita Dreifelde, Sandra Kalnietes Mutter, wurde 1941 als 14-jähriges Mädchen zusammen mit ihren Eltern von der Sowjetunion nach Sibirien deportiert. Aivars Kalnietis, den Vater der späteren lettischen Aussenministerin und kurzzeitigen EU-Kommissarin, ereilte das gleiche Schicksal acht Jahre später, als er und seine Mutter in die UdSSR verschleppt wurden. Kalnietes Eltern lernten sich in Sibirien kennen und heirateten dort 1951. Im folgenden Jahr wurde Sandra Kalniete geboren. Sie blieb ein Einzelkind. «Weitere Sklaven wollten Vater und Mutter der Sowjetunion nicht gönnen.» Erst 1957 durfte die Familie nach Lettland zurückkehren; drei Angehörige hatten Sibirien nicht überlebt: Emilija Dreifelde und Janis Dreifelds, die Grosseltern mütterlicherseits, sowie Aleksandrs Kalnietis, der Grossvater väterlicherseits.

Von einer Besetzung zur andern

Kalniete erzählt die Geschichte ihrer Familie sehr anschaulich. Als Quellen dienten die Berichte ihrer Eltern sowie lettische und sowjetische Akten. Der Leser kann sich ein Bild machen von den schier unerträglichen klimatischen und hygienischen Bedingungen, zu denen, jedenfalls in den Anfangsjahren, der Hunger noch dazukam. «Die Lager», heisst es einmal, «wurden zu Inseln des Grauens in einem Meer von Eis und Schnee.» Und an einer anderen Stelle: «Der nackte Kopf war von eitrigen Geschwüren bedeckt. Mit feisten Wänsten labten sich die Läuse daran wie an einem Fressnapf.»

Wer Kalnietes Buch liest, versteht, weshalb viele Osteuropäer gegen einen einseitigen Antifaschismus Position beziehen. Die Balten litten sowohl unter den deutschen Nationalsozialisten als auch unter den sowjetischen Kommunisten. Letztere besetzten 1940 Lettland und verleibten es der UdSSR ein. Mit bisweilen fadenscheinigen Begründungen wurden «antisowjetische Elemente» und «Volksfeinde» verhaftet und deportiert. Als Beweis des verbrecherischen Vorgehens von Janis Dreifelds dienten dem Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) sein Haus mit vier Wohnungen, sein Jahreseinkommen von 12 000 Lat sowie seine Landwirtschaft.

Als die Deutschen 1941 in Lettland einmarschierten, fühlten sich viele Letten befreit. «Nicht einmal Kinder waren in den Folterkammern des NKWD geschont worden.» Aber schon bald erkannten viele Letten in der scheinbaren Befreiung eine abermalige Okkupation. «Die entsetzlichsten Tage waren der 30. September und der 8. Dezember 1941, als in Rumbula 24 000 lettische und etwa 1000 deutsche Juden ermordet wurden.» Kalniete stellt die den Letten vielfach vorgeworfene besondere Sympathie für den Faschismus oder einen angeborenen lettischen Antisemitismus in Abrede, ohne einen gewissen Bodensatz, der sich in jedem Volk finde, zu negieren.

Sippenhaftung und Willkür

Nach dem Einmarsch der Rotarmisten 1944 in Lettland wurden viele Letten, die auf Seiten der Deutschen gekämpft hatten, von den Sowjets als Vaterlandsverräter behandelt, unabhängig von den Umständen, unter denen der Einsatz für die Deutschen erfolgte, wie im Fall von Sandra Kalnietes Grossvater. «Welchen Vertreter der neuen Macht hätte es schon interessiert, dass Aleksandrs Kalnietis seine Tätigkeit als Kfz-Mechaniker bei der Deutschen Wehrmacht 1941 auf Anweisung der Arbeitsbehörde angetreten hatte?» So versteckte er sich als Partisan für Monate in den Wäldern. Kurze Zeit nachdem er zu seiner Familie zurückgekehrt war, wurde er von einer Einsatzgruppe des NKWD festgenommen. Das Urteil lautete: zehn Jahre Haft im Straflager mit besonders scharfem Regime sowie fünf Jahre Sonderumsiedlung. 1949 wurden Aleksandrs' Frau Milda Kalniete und ihr Sohn Aivars Kalnietis als «Familienangehörige eines Banditen . . . auf ewige Zeiten» nach Sibirien verschleppt.

Zweierlei Gedächtnis

«Westeuropa», schreibt die Autorin, «hat die Schrecken des Nationalsozialismus erlebt, während der Kommunismus im Bewusstsein von vielen eher als eine Art unschuldiger intellektueller Begeisterung für Salongeplauder über Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit figuriert. Tatsächlich waren sowohl der Nationalsozialismus als auch der Bolschewismus verbrecherische, totalitäre Regime, die die Massenvernichtung von Menschen betrieben», und zwar jedes auf seine Art. «Die Nazis im übervölkerten Europa schränkte die Geographie ein, den Sowjets hingegen bot sie die Möglichkeit, sich ungestört und heimlich in den unendlichen Weiten Sibiriens breit zu machen.» Was dort geschah, gleichsam verborgen hinter einem eisigen Vorhang, hat noch nicht vollständig Einzug gehalten ins kollektive Gedächtnis Europas. Gleichwohl, wer den heutigen Diskussionsstand mit jenem vor zehn Jahren vergleicht, kommt nicht umhin, deutliche Fortschritte zu konstatieren. Die hartnäckige, auf der historischen Wahrheit beharrende Haltung der Balten hat wesentlich dazu beigetragen. Das ist auch Sandra Kalnietes Verdienst.

 

Datum:

21.03.2005

Ressort:

Feuilleton

Autor:

Christian Esch

Seite:

31

Nachgeholte Tränen

Die lettische Politikerin Sandra Kalniete über ihre Kindheit in der Deportation

Vor genau einem Jahr hat Sandra Kalniete die Leipziger Buchmesse eröffnet. Damals sprach sie noch als Außenministerin Lettlands und erzeugte großen Unmut mit ihrer Äußerung, Nationalsozialismus und Kommunismus seien gleichermaßen verbrecherisch gewesen. Ein Jahr später ist Frau Kalniete wieder in Leipzig zu Gast, diesmal als Privatperson. Am Sonnabend stellt sie der Presse die deutsche Übersetzung ihrer Familiengeschichte vor. Diese ist im Herbig Verlag unter dem Titel "Mit Ballschuhen im Sibirischen Schnee" erschienen, und wer die Ex-Außenministerin über das Buch sprechen hört, versteht, wie die Privatperson und die Politikerin zusammenhängen.

Sandra Kalniete ist ein Kind des Gulag. Ihre Mutter wurde mit 14 Jahren nach Sibirien deportiert, als die Sowjets 1940 das kleine Land besetzten. Ihr Vater kam 1949 in einer weiteren Deportationswelle nach Sibirien. Dort wurde Kalniete geboren. Erst mit fünf Jahren durfte sie zurückkehren in eine Heimat, die sie nicht kannte. Drei ihrer Großeltern starben in der Deportation, nur eine Großmutter überlebte.

Das Schreiben des Buches, das in Lettland schon 2001 erschien, sei "eine der wichtigsten Vorgänge in meinem Leben gewesen", sagt Kalniete - und einer der schmerzhaftesten. "Ich musste meine Eltern ausquetschen, soviel ich konnte, und mich dabei als neutralen Zuhörer geben. Ich musste Fragen stellen wie: ,Wie schmecken denn Ratten?'" Beim Abhören der Tonbänder habe sie der Schmerz oft überwältigt. In den Archiven lernte sie viel über die Maschinerie des Stalinismus, in der Einzelschicksale keine Rolle spielten. Ihre Mutter etwa verlor 16 Jahre ihres Lebens in Sibirien, obwohl eigentlich nicht sie, sondern der Bruder hätte deportiert werden sollen. Den aber hatte der NKWD nicht gefunden.

Kalniete hat mit diesem Buch ihre Familie für sich erst konstruiert, und sie hat ein Schweigen gebrochen, mit dem die Eltern einst sich selbst und das Kind schützten. Und wie die resolute Politikerin da in gewandtem Englisch von späten Einsichten und nachgeholten Tränen erzählt, fühlt man sich an Madeleine Albright erinnert, die als amerikanische Außenministerin ebenfalls ihre Familiengeschichte neu schreiben musste.

Mit der Osterweiterung der EU, sagt Frau Kalniete, müsse auch die Geschichte Osteuropas in die europäische Geschichtsschreibung integriert werden. Es gehe nicht um eine Neuschreibung, sondern "um eine wahrhaftige Niederschrift". Ihr Buch, das schon auf französisch vorliegt und bald auch auf holländisch, tschechisch, italienisch und schwedisch, kann zur Erweiterung des westlichen Geschichtsbildes beitragen. Aber wäre es nicht noch wichtiger, das der Russen zu erweitern? Nun ja, es wird auf russisch erscheinen, sagt Kalniete. Allerdings in einem lettischen Verlag. Und wie der Übersetzer Matthias Knoll erklärt, ist schon die lettische Originalausgabe mit umgerechnet elf Euro weit teurer als vergleichbare Bücher. In Russland aber sind die Preise noch niedriger. Für den dortigen Leser ist das Buch schier unbezahlbar, wenn sich nicht ein russischer Verlag findet.

27.07.2005, S. 6

Geboren im GULag

Sandra Kalniete rekonstruiert die Deportation ihrer Familie aus Lettland

Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Herbig Verlag, München 2005. 352 Seiten, 22,90 [Euro].

JASPER VON ALTENBOCKUM

Es dauerte nicht lange, daß dieses Buch in Ungnade fiel. "Unbeholfen, schwülstig, gefühlsüberfrachtet, selten analytisch" nannte es der Historiker Michael Wolffsohn, der damit eine Auseinandersetzung mit Sandra Kalniete fortsetzte, die vor der deutschen Übersetzung ihrer Familienbiographie auf der Leipziger Buchmesse begonnen hatte. Dort hielt Kalniete vor Jahr und Tag eine Rede, in der sie das hierzulande achtsam gehegte Tabu brach, kommunistische und nationalsozialistische Verbrechen nicht vergleichen, gar gleichsetzen zu dürfen. Der Vorwurf ließ nicht lange auf sich warten, sie relativiere damit den Holocaust und verhöhne die Opfer des Hitlerregimes. Sie war damals noch Außenministerin Lettlands, eines Landes mithin, das sich seit Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit Anfang der neunziger Jahre erst gegenüber Rußland, der ehemaligen Besatzungsmacht, schließlich aber auch gegenüber der westlichen Öffentlichkeit dafür rechtfertigen mußte, die Verbrechen der sowjetischen Annexion und Okkupation mindestens so zu verabscheuen wie die der Nationalsozialisten.

Warum den Letten die geschichtspolitische Sauberkeit Moskaus und des Westens schwülstig und selten analytisch vorkommen muß, ist in diesem Buch nachzulesen. Es schildert den Weg ihrer Großeltern und Eltern in die Straflager und "Sonderansiedlungen" der "Hauptverwaltung der Sowjetischen Zwangsarbeitslager" (GULag). Sie waren die Opfer dreier Deportationswellen: 1941 nach dem Einmarsch der Roten Armee ins Baltikum, 1944 nach dem Rückzug deutscher Truppen und der sowjetischen Rückeroberung Lettlands sowie 1949, als eine dritte Verhaftungswelle über die besetzten Gebiete an der Ostsee hereinbrach.

Sandra Kalnietes Mutter Ligita Dreifelde wurde mit ihren Eltern am 14. Juni 1941 nach Sibirien deportiert (aus ihrem Kinderzimmer nahm sie nur die Ballschuhe mit, daher der Titel). Sie zählten zu den "sozial gefährlichen Elementen", die laut einem Befehl der sowjetischen Staatssicherheit aus dem Jahr 1939 zu deportieren waren. 1941 wurde dieser Befehl in einer generalstabsmäßig vorbereiteten Aktion an Tausenden Letten exekutiert. Großvater Janis Dreifelde starb - wie die Mutter erst 1990 vom KGB aus Moskau erfuhr - sechs Monate später in einem Straflager. Die Großmutter Emilija Dreifelde starb am 5. Februar 1950, getrennt von ihren Kindern, in der Verbannung an den Folgen von Unterernährung und Krankheit. Die drei Brüder der Mutter konnten sich verstecken und flohen vor Ende des Zweiten Weltkriegs über Deutschland nach Kanada und Großbritannien. Sandra Kalnietes Vater Aivars Kalniete wurde mit seiner Mutter am 25. März 1949 deportiert. Beide galten als "Familienangehörige eines Banditen", gemeint war der Großvater Aleksandrs, der im Untergrund als Partisan ("Waldbruder") nach 1944 gegen die sowjetischen Besatzungstruppen kämpfte. Er wurde im Herbst 1945 verraten und verhaftet, ebenfalls nach Sibirien deportiert und starb 1953 in einem Straflager.

Aivars Kalniete und Ligita Dreifelde lernten sich in der sibirischen Verbannung kennen und heirateten 1951. Ihr einziges Kind, das Einzelkind bleiben sollte, weil die Eltern der sowjetischen Verbannungspolitik nicht noch mehr Kinder "schenken" wollten, Sandra Kalniete also, wurde im Dezember 1952 in Togur im Oblast Tomsk geboren. Sie kehrte mit ihren Eltern 1957 nach Lettland zurück.

Die Rekonstruktion der Schicksale ihrer Angehörigen gibt Sandra Kalniete nicht in Form von familiengeschichtlicher Betroffenheitslyrik wieder. Das unterscheidet ihr Buch von der Literatur, die während des Kalten Kriegs im Exil entstand und schnell dem Desinteresse und der Vergessenheit anheimfiel, die nur Alexander Solschenizyn durchbrechen konnte. Exemplare dieser Literatur (besonders ergreifend: Ruta Upites nach ihrem Tod von ihrem Vater veröffentlichtes Tagebuch "Ich wollte so gerne noch leben", das 1978 auf deutsch im Stockholmer Exilverlag des Lettischen Nationalfonds erschien) findet man allenfalls noch im Antiquariat.

Kalniete forschte in Archiven nach, führte Interviews mit Überlebenden, unter anderem mit ihrer Mutter, und verarbeitete die Sekundärliteratur über die sowjetische und deutsche Besatzungspolitik in Lettland und über die Straf- und Sonderlager des GULag. Der Text ist mit reichhaltigen Anmerkungen, aufschlußreichen Querverweisen und am Ende mit einer Zeittafel versehen. Die Autorin schildert damit exemplarisch die genozidalen Erfahrungen eines Zweimillionenvolkes, in dem fast jede Familie persönlich überlieferte Geschichten aus dem GULag erzählen kann - nicht anders ist es in Estland, Litauen, Tschetschenien, Moldau, in der Ukraine und so weiter.

Worin liegt nun das Anstößige? Es sind zwei Passagen in Sandra Kalnietes Buch, in denen sie offenbar gegen die Erinnerungsetikette verstößt, indem sie ihre Landsleute zu mehrfachen Opfern der Geschichte erklärt. Einmal verteidigt sie ihre Heimat gegen den Vorwurf, sich durch einen latenten Antisemitismus in die Arme der deutschen Besatzungstruppen geworfen zu haben. Sie verweist dafür auf die Bekämpfung des Antisemitismus im Lettland der dreißiger Jahre, auf zahlreiche Beispiele der Zivilcourage während der Zeit der deutschen Besatzung, die später von Israel honoriert wurden, und richtet sich gegen Versuche sowjetischer (neuerdings auch russischer) Propaganda, "mir und anderen anständigen Einwohnern Lettlands die ,angeborene Schuld' aufzubürden" - ein Satz wie ein Fremdkörper in dem Buch, der zudem verrät, daß es ihr an routiniert-vergangenheitsbewältigender Diplomatie fehlt.

Zum anderen war Aleksandrs Kalniete einer der "Freiwilligen", die 1943 als "Lettische Legion" der Waffen-SS unterstellt wurden. Diesen "SS-Veteranen" wird bis heute vorgeworfen, am Massenmord an Juden in Lettland unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Jahr 1941 beteiligt gewesen zu sein. Richtig daran ist nur, daß Angehörige lettischer Erschießungskommandos, die sich an der Verfolgung und Ermordung der Juden beteiligt hatten, später in die "Legion" integriert wurden. Die 1943 eingezogenen "Freiwilligen", die alles andere als Freiwillige waren, beschreibt Sandra Kalniete anhand der Zwangsrekrutierung ihres Großvaters als Opfer, die sich mit dem kleineren Übel trösten konnten, gegen den nahenden und aus den Zeiten der ersten Besatzung allzubekannten Terror der Sowjets zu kämpfen. Wie sich in vielen Fällen erwies, stellten sie sich damit nur ihr Todesurteil aus.

Auf die Angriffe gegen ihr Buch hat Sandra Kalniete nicht reagiert. Wohl aber setzte sich ihr Übersetzer Matthias Knoll insbesondere mit den Vorwürfen Wolffsohns auseinander ("geradezu unerträgliche, beinahe provokative und unbelehrbare Schönfärberei"). Es gehört zur Ironie der Aufnahme dieses Buchs in Deutschland, daß Knoll die Lektüre zahlreicher Standardwerke zum Holocaust in Lettland empfehlen muß, damit einer Nation Gerechtigkeit widerfahre, die unter dem Eindruck des "roten Terrors", den Kalniete beschreibt, dem Untergang geweiht war.
 

DER TAGESSPIEGEL

1.08.2005

Ballschuhe im Schnee

Sandra Kalniete beschreibt Stalins Terror im Baltikum – am Beispiel ihrer eigenen Familie

Von Hubertus Knabe

– Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Herbig Verlag, München 2005. 320 Seiten, 22,90 Euro.

Die frühere lettische Außenministerin hat eine erschütternde Familiengeschichte geschrieben – und das lückenhafte Geschichtsbild Europas vervollständigt.

Waren Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen kriminelle Regime? Als die lettische Außenministerin Sandra Kalniete dies im vorigen Jahr auf der Leipziger Buchmesse erklärte, verließ der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Samuel Korn, unter Protest den Saal. Wenn er die Biografie der Rednerin gekannt hätte, wäre er vielleicht sitzen geblieben und hätte ihr mitfühlend die Hand gereicht: Sandra Kalniete wurde 1952 als Kind deportierter Eltern in Sibirien geboren. Die erschütternde Geschichte ihrer Familie hat sie in einem Buch beschrieben, das jetzt auf Deutsch erschienen ist. In „Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee“ schildert sie, wie ein Großteil ihrer Angehörigen Opfer des kommunistischen Terrors wurde.

Sandra Kalnietes Mutter war noch ein Backfisch, als die Rote Armee 1940 die baltischen Staaten besetzte und zu Teilrepubliken der UdSSR machte. Zur schnelleren Sowjetisierung Lettlands deportierte Stalins Geheimpolizei damals alle potenziellen Gegner nach Sibirien – 34000 Menschen oder fast zwei Prozent der Bevölkerung.

Sandra Kalnietes Großeltern zählten auch dazu. Im Juni 1941 wurde die Familie verhaftet und kurz danach auseinander gerissen. Der Großvater kam in ein Straflager, wo er angeklagt wurde, ein Haus und eine kleine Landwirtschaft besessen sowie einen Arbeiter ausgebeutet zu haben. Noch vor seiner Verurteilung starb er an den unmenschlichen Haftbedingungen des Gulag.

Die Großmutter und ihre 15-jährige Tochter wurden im Rahmen der üblichen Sippenhaft in die Verbannung geschickt. Nach wochenlanger Fahrt in einem Viehwaggon mussten sie hinfort in Sibirien ihr Dasein fristen. Zusammen mit russischen „Kulaken“ hatten sie unter primitivsten Bedingungen in einer Kolchose Dienst zu leisten, vom zugeteilten Wohnort durften sie sich nicht mehr als drei Kilometer entfernen. Zeitweise litten sie so sehr unter Hunger, dass sie sogar Rattenfleisch aßen. Und als sich die Großmutter einmal im ewigen Schnee verirrte, fror ihr die Nasenspitze ab. Sie starb im Februar 1950.

Für Sandra Kalnietes Mutter, die in Lettland eine rundum behütete Kindheit verbracht hatte, war die Deportation ein tiefer Schock. Als das Festnahmekommando an der Wohnungstür polterte, fieberte die Pubertierende gerade ihrem Tanzstundenball entgegen. Die Ballschuhe, die sie dafür bekommen hatte, waren lange Zeit das Einzige, was sie in Sibirien an den Füßen trug. Erst sieben Jahre später ließ man sie vorübergehend nach Lettland zurückkehren, da sie bei ihrer Verschleppung noch minderjährig gewesen war. Doch ein Jahr später wurde sie abermals verhaftet und erneut nach Sibirien geschickt. Bei dieser zweiten Deportationswelle kamen insgesamt noch einmal 43000 Letten ums Leben. In Sibirien lernte Sandra Kalnietes Mutter ihren künftigen Mann kennen. Auch dieser war mit seiner Familie aus Lettland deportiert worden. Der 18-Jährige musste zunächst als Holzfäller arbeiten, später kam er in einem Sägewerk unter. Als „Familienangehörige eines Banditen“ waren die Familienmitglieder 1949 zu lebenslanger Verbannung verdammt worden.

Als „Banditen“ bezeichnete die sowjetische Geheimpolizei Sandra Kalnietes anderen Großvater. Da dieser am Ende des Zweiten Weltkriegs zur Waffen-SS eingezogen worden war, galt er bei den Sowjets als Vaterlandsverräter. Um seiner sicheren Verhaftung zu entgehen, hatte er sich bei Partisanen im Wald versteckt. Im November 1945 wurde er gefasst, gefoltert und von einem Kriegstribunal zu zehn Jahren Lager verurteilt. Vergeblich bat er darum, freigesprochen oder erschossen zu werden. Nach achtjähriger Haft starb er in einem Lager am Polarkreis.

Als Sandra Kalniete in Sibirien zur Welt kam, galt auch sie automatisch als „auf ewige Zeiten“ Verbannte. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie in einer Holzhütte, die ihr Vater mühsam errichtet hatte. Wie sich selbst mussten ihre Eltern auch das Baby regelmäßig bei der Polizei registrieren lassen. Nach Stalins Tod lockerten sich die Bestimmungen zwar etwas, doch erst 1957 durfte die Familie nach Lettland zurückkehren.

1990 gehörte Sandra Kalniete zu den Wortführern der lettischen Freiheitsbewegung, als Außenministerin führte sie ihr Land vergangenes Jahr in die Europäische Union. Mit ihrem Buch hat sie nicht nur ihren Angehörigen ein Denkmal gesetzt, sondern zugleich eine ergreifende Geschichte Lettlands unter der sowjetischen Besatzung geschrieben – eine Epoche des Terrors, die in Deutschland kaum bekannt ist, zur Geschichte Europas aber dazugehört.

 

 

LE NOUVEL OBSERVATEUR

Semaine du jeudi 12 juin 2003 - n°2014 - Livres

Témoignage

En escarpins dans les neiges de Sibérie

par Sandra Kalniete

Syrtes, traduit du letton par Velta Skujina, 288 p., 22 euros.
ISBN: 2845450796

 

 

En 1939, alors que Hitler annexe la Pologne, Staline s’approprie les Etats baltes. Ces nations sont niées, les dissidents déportés. Sandra Kalniete naît en 1952 dans un goulag sibérien. Elle restera fille unique: pas question de livrer un autre enfant à l’oppresseur. Ce n’est qu’après cinq ans de privations qu’ elle découvrira la Lettonie. La tragédie de sa famille symbolise celle de sa terre. Désormais chef de la diplomatie de son pays, elle veut le faire connaître avant son entrée dans l’Union européenne d’ici à un an. Édifiant !

Jeanne de Ménibus

   
 

 

ITALIA

 

Scarpette da ballo nelle nevi di Siberia.

270 p., € 14,00
Prosa n. 92
Libri Scheiwiller, 2005,  ISBN: 88-7644-445-9

 

NETHERLANDS

 

Met dansschoenen in Siberische sneeuw

Uitgever: Gennep, Uitgeverij Van

382 blz.

ISBN:  9055155241

 

 

ČESKÉ REPUBLIKY

 

V plesových střevíčkách sibiřským sněhem

Nakladatel: Kasal Lubor

Originál: Ar balles kurpēm Sibīrijas sniegos

Překlad: Michal Škrbal

296 stran

ISBN: 80-903465-5-3

 

 

SWEDEN

 

Med Lackskor I Sibiriens Snö

Förlag:  Bokförlaget Atlantis AB

ISBN: 9173530662
Utgivning:  Oktober 2005

 

 

in Russian

 

Сандра Калниете

В бальных туфельках по сибирским снегам

Riga, Latvia

Atēna, 2006

 

 

in English

 

With Dance Shoes in Siberian Snows

Transl.: Margita Gailītis

Riga, Latvia: The Latvian Occupation Museum Association,

2006. ISBN 9984-9613-7-0

 

 

in Finnish

 

Tanssikengissä Siperiaan

Transl.: Hilkka Koskela.

Helsinki, Finland: Werner Söderström Osakeyhtiö, 2007.

ISBN 978-951-0-32096-9